Träge war er, träge und erhaben, so schritt er umher. Alles fuhr ihn an, die eisige Nachtluft, die Autos auf den Straßen, Hupen und Passanten, Lärm. Nichts davon konnte ihm etwas anhaben, die Blicke verloren sich in seinen trägen Augen, Geräusche verpufften in der großen Leere. Träge und leer wanderte er durch die Stadt. War sie es denn nicht? Seine eigene Trägheit war fast die der Erde, sein Bewusstsein in der Schwerkraft gefangen und betäubt, zusammengekrümmt in einer dunklen Ecke verendend. Trägheit, die er in letzten vollen Zügen auskostete. Seine Ruhe und seine Schwere zogen die Menschen an, das spürte er. Innerlich hin- und hergerissen oszillierten sie mal links, mal rechts an ihm vorbei, ihre Geschäftigkeit ein bloßes Flimmern in den leeren Straßen. Ach wo, auch die Straßen flimmerten ja grün und rot, und wenn er seine Augen schloss, flimmerte ihm die Netzhaut. Das alles nur Darbietungen vor weitem, dunklen Raum. Alles torkelte in heiterer Verzweiflung durch die Stadt, versuchte in seiner Bewegung, nicht Nichts zu sein. Ihn selbst ließ das unberührt. Lange schon war er mehr Schatten als Körper, und doch gewichtiger als die Eindrücke, die noch in sein Bewusstsein sanken. Sie verzehrten sich selbst und erloschen in wirrem Spiel, um außer der Dunkelheit nichts zu hinterlassen. Da war es fast ein Wunder, dass sich um ihn herum immer noch alles bewog und unter ihm vorbeizog, sodass er beständig vorwärts kippte und glitt. Was gab es da noch groß zu bewegen? Die Luft, die in ihn hineinfuhr, spürte er nicht mehr, seine Hände waren aufgeblasene Objekte, die von Zeit zu Zeit durch sein Sichtfeld schwappten, alles andere flimmerte in vergeblichen Funken an ihm vorüber. Manchmal ließ ein plötzlicher Schwall von Wärme ihn aus der Umgebung kippen, spülte sie fort zu einem schäumenden Punkt in der Schwärze, nach der ihn verlangte. Doch noch kehrte sie immer wieder zurück, um auf ein Neues ihren wahnsinnigen Lichterreigen zu exerzieren. Gerne hätte er das tolle Etwas in der Ferne einfach zerdrückt oder ausgepustet, aber Luft und Körper nahm es stets mit sich. So taumelte er weiter und war trunken von Hoffnung auf die nächste, endgültige Welle. Unbeirrt davon hoben und senkten sich um ihn herum die roten, gelben, braunen Lichter, bliesen sich und die Umgebung zu dem unscharfen Bällebad auf, durch das er sich drückte. Die vielen Passanten stoben erschrocken auseinander, wenn er sie von hinten anrempelte, oder wichen gleich großzügig aus, wenn sie ihn sahen. So kam er recht schnell voran, die Straße zog sich hinter ihm wie ein Teigfladen aufwärts, in die Länge, und schob ihn weiter. Die Zeit selbst dehnte sich und stauchte ihn zusammen, ließ ihn vorwärts schnellen, fast schneller, als seine Wahrnehmung noch funktionierte. So schoss ihm in einem Moment eine belebte Hauptstraße quer über den Weg, im nächsten schon beugten sich dicht die Bäume über den Kies unter seinen Sohlen. Alles war weich, selbst die Luft wackelte wie Gelatine, wenn er sie teilte. Weich und seltsam warm, als würde die ganze Stadt aufgekocht. Tatsächlich brodelte es, überall stiegen die Blasen hoch, platzten fettig auf und drückten ihn in alle Richtungen. In milder Verärgerung kniff er die Augen zusammen und wollte sich weitertreiben lassen, aber die Lichter vor seiner Netzhaut brannten auf und drehten sich gleichmäßig, kreisten immer wilder und verjagten die Schwere, mit der er sich vorwärts gewälzt hatte, ließen ihn für einen kaum fassbaren Moment gar abheben – er über allem, schwebend in der ersehnten Schwärze –, dann schmetterte ihn die Umgebung nieder und begrub ihn unter ihrem lächerlich großen Gewicht. Ihn, den masselosen Punkt, der sich immer weiter entfernte.
Halb totgesoffen hing der Morgen über der Stadt und spie Leben auf die Straßen. Da war kein Wanken mehr, kein heiteres Herumstehen, nur noch gleichmäßig stockender Fluss. Köpfe, kaum ausgenüchtert schon wieder aus ihren Betten hochgefahren, wirre Gesichter in den Reflexionen von Hochglanzlack und Sicherheitsglas. Sie versuchten zu vergessen, dass es ein Gestern gegeben hatte und erst recht, in was für einer Gegenwart sie sich befanden. Die Ernüchterung hatten sie nicht lang ertragen mögen und waren sogleich aus den Treppenhäusern ihrer Reihenhäuser auf die kalten Straßen gerauscht, um sich in Staus zu stürzen. Man konnte sie geradezu rattern hören. Uhrwerke, die immer ein paar Stunden vorgingen, aber bloß nicht weiter. Die Nacht würde kommen, und mit ihr die aufgeschobenen Gedanken. Sie lauerten schon hinter den Zimmertüren, und nur, wer sich am Tage hinreichend verausgabt hatte, würde sie erschöpft auf irgendwann anders verlegen können. Für den Moment galt es also, sich in den Kleinigkeiten der nächsten Stunden zu verlieren, sodass alles andere in unscharfer Leichtigkeit vorüberflog. Die Vergangenheit schnürte sich hinter den Menschen zu und drückte sie beständig vorwärts; alles, was sie taten, war im selben Moment bereits Vergangenheit und drängte sie dazu, noch mehr zu schaffen. Taten und Dinge, Kleinigkeiten blähten sich zu gewaltigen Lichtpunkten an ihrem engen Horizont auf und schwappten doch nur im Weg herum, waren sie einmal erreicht. Mit längst verkrampften Gliedern drückten sie das alles zur Seite und strampelten weiter, den Blick angestrengt nach vorne gerichtet. Eine Spur von toten Häuten zog sich hinter ihnen ellenlang in die Weite. Er wusste selbst, wie das war, immer alles zurückzulassen, immer irgendwann zurückgelassen zu werden. Menschen verlebten ihre Zeit alleine, und alles, was sie an sich zogen, zerrann unter ihren verstohlen gierigen Blicken zu Nichts. Seit er das wusste, gierte ihn nicht mehr nach Dingen und Menschen, sondern vielmehr nach ihrer Abwesenheit, der totalen Abwesenheit. Und doch – je mehr er sich ihr näherte, desto heftiger kehrte wieder und wieder sein Bewusstsein zurück, als verlangte es nicht einmal mehr nach diesem Einen, Letzten. Dann stand er gefühlte Augenblicke später von Neuem an seinem milchigen Dachfenster und schaute auf das lauwarme Treiben, auf die Straße, die sich draußen vorbeizog, um nach wenigen Metern in sanften Biegungen zu entschwinden.