Eine junge Frau befindet sich in der Mitte eines Zimmers. Ihr Blick rast in schreienden Kreisen die Wände entlang. Gäbe es nur eine Richtung, in die sie loslaufen könnte, wäre sie bereits auf und davon. Aber das Fenster führt ins Nichts, die Tür hinaus auf den Gang ins Treppenhaus auf die Straße in die Stadt in die Unkontrollierbarkeit. Die Drehung, der Wechsel von Wand, Tür, Schrank, Bett, still glänzenden Hausdächern, Wand, Tür, Schrank, Bett, träge vorüberziehenden Wolken, Wand, Tür und Schrank führt zu Schwindel, der sie schließlich aufs Bett stürzen lässt. Für den Fall, dass sie das Schreien nicht mehr unterdrücken kann, presst sie ihr Gesicht tief in die Matratze, sodass sie kaum noch Luft bekommt. In Atemnot hämmert sie mit ihren Fäusten auf die Unterlage ein und strampelt mit den Beinen, erst heftig, dann immer schwächer. Bald kommt die Bewegung zum Erliegen; die Frau hebt den Kopf und schnappt mit einem Seufzer nach Luft. Die Wand vor ihren Augen wackelt, schwimmt und flimmert. Erschöpft senkt sie den Blick und stützt sich auf ihren Ellbogen ab. Die Aufregung hat ihr Herz rasen lassen. Kostbare Schläge, wenn sie auch jetzt noch in Fülle zur Verfügung stehen. Mit einigen tiefen Atemzügen versucht sie, zur Ruhe zu kommen, zittert aber am ganzen Körper. Statt Gedanken jagen nur Worte durch ihren Kopf, die aus dem ganzen Zimmer auf sie einprasseln. Es sind kleine Worte, über die man für gewöhnlich nicht nachdenken muss. Nun aber klingeln und schwirren sie, hallen wider und schwellen im Durcheinander zu einem fieberhaften Dröhnen an, das sich über die Frau entlädt. Jetzt muss sie schreien, darf es nicht in der Matratze ersticken und brüllt die Wand an, lauter als das Donnern. Ihr Kehlkopf überschlägt sich und bricht in Husten aus, sie kneift die Augen zusammen und schlägt sich eine Armbeuge vor den Mund. Der Anfall verebbt in Stille. Vorsichtig hebt die Frau den Kopf. Sie betrachtet die Körnung der weiß getünchten Wand. Dann schweift ihr Blick ab, bis sie durch das Fenster in den Himmel schaut. Über den Dächern liegen immer noch ein paar Wolken aufgebauscht, von ihnen abgesehen bewegt sich nichts. Nur das Rauschen der Hauptstraße bedeutet, dass die Stadt nicht erstarrt ist. Auch Schreie dringen leise durch das Fenster, aber nicht bis in das Bewusstsein der Frau. Sie wendet nach einer Weile den Blick ab, steht vorsichtig vom Bett auf und bewegt sich zur Zimmertür, um den Schlüssel einmal im Schloss zu drehen. Sie fürchtet nicht, dass irgendjemand sich Zutritt verschaffen will, sondern muss viel mehr sich selbst daran hindern, das Zimmer zu verlassen. Dazu ist die Maßnahme natürlich ungeeignet, aber vorerst spendet sie ein Gefühl der Sicherheit. Als nächstes wird das Radio auf niedrigster Stufe eingeschaltet. Nach einem Moment der Sendersuche säuselt klassische Musik in die trockene Zimmerluft. Ihre Augenblicke verflüchtigen sich, sobald sie die Frau erreichen, sofort drängen sich die nächsten Klänge auf. Die Überblendung von Musik und Stadtgeräuschen hilft ihr beim Nachdenken. Sie hat die Kontrolle über ihre Worte wiedererlangt und kann Gedanken formulieren. Der erste ist voller Gewissheit, dass das alles nicht anders hat kommen können, von Anfang an gegeben war. Ihr gefällt das nicht, sie braucht eine Weile, um sich damit abzufinden. Verflochtene Melodien umfließen währenddessen ihr Bewusstsein. Ein klassischer Komponist findet Motive, deren ganzes Wesen sich erst in ihrem Konflikt untereinander äußert. In ihnen liegen Wohlklang und Dissonanz, sie drängen von dieser zu jener Stimmung und geben den Ablauf des gesamten Stücks vor. Der Komponist erkennt, wonach seine Motive verlangen, und bannt ihr Zusammentreffen auf Notenpapier. Die Frau greift nach dem Radio, aber sobald sie es abgeschaltet hat, fädelt sich eine neue Melodie durch den Raum. Elegant und haltlos, zu dünn besetzt für Harmonien, etwas zittrig. Es sind sehr vertraute Klänge, auch, wenn ihre Zerbrechlichkeit die Frau befremdet. Ihnen fehlt eine Deutung, und so schlängeln sich die Töne bei aller Anmut nur ziellos umher. Nach einiger Zeit wiederholen sie sich, und die Frau lauscht den Iterationen, ohne sich recht zu helfen zu wissen. Etwas belämmert schaut sie in einem Moment der Unachtsamkeit aus dem Fenster, muss sich nur vorstellen, wie sie den Weg zurücklegt, die Distanz überbrückt, und schon bricht es wieder über sie hinein. Groß und pathetisch diesmal, donnernd, aber klar. Das Motiv hüllt sie in endlose Wiederholungen, gewinnt mit jedem Mal an Vielfalt, bis ein ganzes Orchester wie ein Mantra hinausposaunt, was sie verstummen lassen wollte. Ihre eigene Stimme springt zwischen den Tönen hervor, ein zitternder Einspruch, doch in den neuen Harmonien ist er wunderbar verloren. Die Frau springt auf, lässt sich zur Tür dirigieren und streicht mit ihrer Hand über die Klinke, den Schlüssel, aber mit einer Drehung lässt sie davon ab und wirbelt sich stattdessen mit Wiegeschritten in die Musik ein. Blind und taub vor Lärm, aber strahlend, dreht sie sich mit geschlossenen Augen immer schneller und wünscht sich, sie möge nur nichts anderes mehr hören als diese beiden Motive, die sich nun so gewaltig ineinander entladen, dass die Klänge aufblitzen und rattern, fliegen und donnern, blechern röhren und himmelhoch kreischen, um sie herum und aus ihr heraus wie ein einziger gewaltiger Ton, der den Moment verschlingt und nach Ewigkeit schreit, Ewigkeit in weiter Landschaft, deren Luft surrt und deren Leben nichts als singt, Ewigkeit, die streicht und schlägt und pfeift und schwingt, Ewigkeit im Einklang, diesem verzehrenden Zusammenspiel, zu dem die Stimmen bei aller Reibung doch immer wieder und wieder zurückfinden, das von Beginn an erwartet wird und dem ganzen Stück erst seine Daseinsberechtigung verleiht. Sie wirbelt und fällt und wirbelt doch weiter, bis die körperliche Erschöpfung ihren Lärm in süßlichen Schwebungen verklingen lässt. Sie findet sich auf dem Teppichboden wieder. Ihr Herz rast, doch sie hindert es nicht daran. Während sie eine Weile dort liegt, erkennt sie, wie das alles durch die Motive vorbestimmt ist, wie alles nur passiert, um ihr Wesen in all seinen Facetten offen zu legen. Wie alles verstummen muss, wenn es aufhört, sich selbst neu zu entdecken. Wie sie selbst nie mehr verklingen können wird, in jedem Augenblick angestoßen, gestrichen, durchflutet von neuem Leben.